das unerträgliche annehmen

„Das Leben geht weiter“, „Seh das Positive“, „Sei dankbar“ – das sind wohl die häufigsten Ratschläge, die Trauernde hören, die gerade einen geliebten und wichtigen Menschen verloren haben.

Die Einen meinen es gut und wollen trösten, viel häufiger spiegeln diese Aussagen jedoch Hilflosigkeit, Angst und nicht selten Ignoranz wider, die wie eine Art Schutzschild wirken soll, mit dem der oder die Trauernde auf ermotionaler Distanz gehalten wird.

Und so fühlen sich Trauernde – gerade in unserer schnellen und hektischen Welt – oft regelrecht unter Druck gesetzt, doch bitte so schnell und unauffällig wie möglich wieder zum „normalen Alltag“ zurück zu kehren. Im schlimmsten Fall eben mit Medikamenten.

Allerdings: „Trauer, die abgelehnt, unterdrückt oder zum Schweigen gebracht wird, schadet dem Einzelnen, wie auch den Familien und Gemeinschaften“, schreibt Jeffrey B. Rubin im Vorwort von Dr. Joanne Cacciatores Buch „Das Unerträgliche annehmen“, in dem die Autorin einfühlsam Wege zeigt, „Wie wir an Verlustschmerz und Trauer wachsen können“.

Und Joanne Cacciatore weiß wovon sie spricht – der Tod ihrer neugeborenen Tochter „katapultierte sie gegen ihren Willen auf den Weg der traumatischen Trauer“ und in eine neue Berufung: Seit mehr als 20 Jahren begleitet Joanne Cacciatore Menschen auf sechs Kontinenten in Trauerprozessen, forscht und veröffentlicht als außerordentliche Professorin an der Arizona State University und gründete die MISS Foundation, die Familien beisteht, die den Verlust eines Kindes zu beklagen haben.

Sie ist renommierte Referentin, ordinierte Zen-Priesterin und errichtet derzeit ein ein Erholungszentrum für Trauernde, die traumatische Verluste erlitten haben. Zum Konzept der Einrichtung gehören neben der therapeutischen Gemeinschaft zahlreiche nichtmedikamentierte Ansätze wie Gärtnern, Meditation, Yoga oder der Umgang mit Tieren, die aus Missbrauch und Vernachlässigung gerettet worden sind.

Vor diesem Hintergrund erzählt die Autorin in 50 abgeschlossenenen Kapiteln aus ihrem reichen Erfahrungssschatz im Umgang mit Trauer und von den verschiedenen Stadien, die Trauernde durchleben. Sie stellt Menschen vor, die traumatische Verluste erlitten, die sich gestellt und einen Weg aus der dunklen Nacht der Seele gefunden haben. Immer geht es dabei um Mitgefühl. Und um Mut: Mut, die Trauer zuzulassen, mit ihr zu atmen und zu leben.

Mit ihrem Buch kritisiert Joanne Cacciatore gleichzeitig plausibel unsere mitgefühlsarme, glückssüchtige Gesellschaft, die einen geradezu pathologischen Umgang mit Gefühlen im Allgemeinen und zur Trauer im Besonderen hervorbringt. Weshalb Trauernde oft an sich selbst zweifeln, sich entfremdet, alleine, fast schuldig fühlen, was eine Heilung fast unmöglich macht.

Genau deshalb ist das Buch ein Plädoyer für „Therapieansätze für Traumata und Trauer, die ohne Wenn und Aber das ganze Gefühlsspektrum der Menschen respektieren und unserem Schmerz eine emotionale Heimat geben“, so Jeffrey B. Rubin. Fragen wie „Bist Du immer noch traurig?“ sind da wenig hilfreich.

„Suchen Sie sich Menschen, die bereit sind, den Weg gemeinsam mit ihnen zu gehen, ohne zu urteilen“, rät Joanne Cacciatore. Und weil Selbstfürsorge in Trauerphasen das wichtigste und gleichzeitig am häufigsten vernachlässigte Element ist, vermittelt sie heilsame Trauer-, Verbindungs- und Erinnerungsübungen und Rituale, die ganz individuell gestaltet werden können.

Übungen, die gut tun, stärken und den Transformationsprozess der Trauer unterstützen. Denn Trauer verlangt gesehen zu werden, verlangt Ausdrucksmittel. Damit das Unerträgliche doch irgendwie tragbar und mit der Zeit auch wieder leichter werden darf, was sich viele Trauernde gar nicht zugestehen – aus Angst, den Verstorbenen zu vergessen oder nicht genug zu würdigen.

„Unterdrückte, abgewehrte, zum Schweigen gebrachte, verinnerlichte traumatische Trauer bricht sich auf unzählige schädliche Weise Bahn. Das gilt für den Einzelnen genauso wie für Familien und Kulturen“, so Joanne Cacciatore. „Keine Zeit für Trauer zu haben und zu leugnen, was die Trauer von uns verlangt, äußert sich in Sucht, Missbrauch und Gewalt, oft gegen Schwächere: Kinder, Frauen, ältere Menschen und Tiere.“

Zeit heilt nicht automatisch alle Wunden, niemand weiß, wie lange Trauer dauert und ja: Das Leben wird niemals mehr so sein wie vorher, weil sich vor allem die eigene Erfahrungswelt durch trauern verändert. Doch wenn es gelingt, „bei der Trauer zu bleiben“, entwickeln trauernde Menschen „glühendes Mitgefühl“ – ein Kraft, die nicht nur die Betroffenen selbst, sondern unsere ganze Welt heilen kann, ist Joanne Cacciatore überzeugt. „Wer zutiefst gelitten hat, versteht das Leben in einer Weise, wie andere es nicht können:

Wir wissen, dass der einzige Weg zu authentischer, dauerhafter Zufriedenheit darin besteht, unser Herz nach außen zu kehren und denen zuzuwenden, die leiden, wie wir gelitten haben.“ So wird aus Schmerz schließlich Weisheit und in der Tiefe unserer Seelen wissen wir: In einem bewussten Leben sind wir präsent, eben weil uns der Tod präsent ist – genau deshalb sollten wir Verlust, Trauer und Vergehen nicht beiseite schieben, sondern als transformierende Impulse für mehr Dankbarkeit, Mitgefühl und Schöpferkraft in unserem Alltag aushalten.

Oder wie Joanne Cacciatore schreibt: „Trauer ist von Natur aus poetisch, elegisch. Und Poesie ist wie die Trauer subversiv, ungezügelt und ungehorsam. Poesie verstößt gegen sprachliche Normen, weil sie es muss. Poesie hilft uns zu fühlen. Und wenn wir uns gestatten zu fühlen, was uns zu fühlen zusteht, dann lehnen wir uns gegen die starren trauerleugnenden Strukturen unserer Gesellschaft auf.“ Nehmen wir uns die Zeit!

Dr. Joanne Cacciatore „Das Unerträgliche annehmen. Wie wir an Verlustschmerz und Trauer wachsen können“, 240 Seiten, Broschur, 19 Euro 80, Unimedica im Narayana Verlag

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